Textatelier
BLOG vom: 01.08.2021

Natur und Kultur an einer Bundesfeier

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Aesch/LU

 


Pirmin Meier in Tegerfelden (Foto: J. Maute)
 

Tegerfelden im Aargau: Heimat heisst „auf dem Boden bleiben“ oder „Das Rütli findet vor Ort statt“

Aus der Bundesfeieransprache von Dr. phil Pirmin Meier vom 31. Juli 2021, auf Einladung und im Namen der der Gemeinde Tegerfelden

Der Schützengesellschaft und ihrem Redner Marco Müller möchte ich zu ihrer mit Erfolg verbundenen Heimkehr von der nahen Ersatzveranstaltung zu dem aus Corona-Gründen verschobenen Schützenfestes in Luzern gratulieren, auch für seine beherzte Ansprache. Sie gibt mir ein Motto zur heutigen Bundesfeier aus dem schönsten Text zu einem Schützenfest in der Schweiz, von Gottfried Keller: „Keine Regierung und keine Bataillone vermögen Recht und Freiheit zu schützen, wo der der Bürger nicht imstande ist, selber vor die Haustüre zu treten und nachzusehen was es gibt.“ (Das Fähnlein der sieben Aufrechten“)

Die Worte passen wunderbar zum heutigen Anlass, mit sogar etwas Wetterglück; sind Sie doch alle, was an diesem Tag und dieses Jahr immer weniger selbstverständlich ist, für Ihr Land „vor die Haustüre getreten.“

Darum möchte ich Ihnen allen danken. Dass die „Gmeind zu Tegerfelden“ ihre Bundesfeier begeht, sich nicht einschüchtern lässt weder von einem Virus noch von einem nassen Sommer: Tegerfelden bleibt auf dem Boden, mit Erde, Wasser, Luft und Feuer; dies passt auch zu einem Dorf, welches nach einem Porträt von Lehrer Füllemann in einem Aargauer Jubiläumsbuch (1978) zwar nicht über die grösste, aber über die grösste zusammenhängende Rebfläche im Kanton Aargau verfügt. Mit dem Weinbau findet nach einem bedeutenden Schweizer Naturforscher (Paracelsus) eine fruchtbare Verbindung von Sonne und Erde statt. Nicht zu vergessen das Wasser aus mindestens drei Bächen von hier, so dem bereits 1270 urkundlich erwähnten Gislibach, und natürlich der Surb. Der alte keltische Flussname drückt ähnlich wie „Suhre“ oder „Sursee“ eine gesunde „Säure“ aus, also ein Wasser, das etwas „salzhaltig“ ist, Mineralien mit sich trägt. Ja, besser das Wasser und die Brunnen sind etwas sauer als dass man dem Wein dieses nachsagt!  Salz gilt in der älteren Lehre von der Gesundheit als stabilisierend und konservierend, im Gegensatz zum flüchtigen Quecksilber und natürlich dem Schwefel, welcher bei der Weinproduktion bekanntlich ebenfalls eine Rolle spielt.

Der Name „Dägerfelden“ hat mit dem Boden zu tun, wie schon weiter oben im Surbtal „Tägermoos“, wo Bauern aus meiner Heimatgemeinde Würenlingen gesiedelt haben, oder in Wettingen Tägerhard. „Täger“ meint nach dem oberdeutschen Flurnamenbuch einen lehmigen oder „lättigen“ Boden, wie zum Beispiel in Ihrer Gemeinde der Flurname „Leibückli“ nicht sehr weit von der Burgruine Tegerfelden zum Ausdruck bringt, südöstlich in Richtung Unterendingen. Auf der anderen Seite bergauf gibt’s den sogenannten „Ämmeribuck“, Richtung Zurzacherberg beziehungsweise Achenberg, wohin ich als Bub von Würenlingen aus noch gewallfahrtet bin. Das zeigt, dass ganz früher der Getreidebau in Tegerfelden wohl noch existenzwichtiger gewesen ist als der Weinbau; nach dem Jesus-Wort „Unser tägliches Brot gib uns heute“. „Ämmer“ ist ein alter Ausdruck für „Korn“, „Dinkel“, und hat in der Vergangenheit für Ernährung und sogar Textilarbeit eine gewaltige Rolle gespielt. Damit sind wir beim neben der allgemeinen Landwirtschaft anderen wichtigen Erwerbszweig von Tegerfelden angelangt: dem Müllergewerbe, woran der verbreitete, auch in Würenlingen vertretene Tegerfelder Name „Mühlebach“ erinnert. Ein Mühlebach hier war aber nicht einer der vom Berg ins Tal fliessenden Bäche oder Bächlein, siehe noch den Namen „Bächli“, sondern seitlich an ein Mühlrad geleitetes Wasser der Surb.

Unter einem „Ämmerimähler“ verstehen wir einen Spezialisten, eben einen Müller, der „Ämmer“ mahlt. Dieses Korn diente auch zur Herstellung von Stärke, zum Beispiel für die Stärkung von Hemden und Leintüchern. In dieser Eigenschaft sind die „Ämmerimähler“ noch geschäftlich herumgereist. Der Ausdruck war vor 300 Jahren auch kennzeichnend für einen Nachrichtenüberbringer, also einen, der wegen vielem Reisen über spezielle Informationen verfügte. „Er weiss es wie n-en Ämmermähler“, sagte man gemäss der alten Dorfgeschichte von Tägerig über einen besonders gut Informierten.

Tegerfelden stellt ein spezielles Stück Landschaft mit Natur, Kultur, Tradition und Geschichte dar. Mir hat es seit der Bezirksschulzeit viel bedeutet. Nicht nur, weil ich mich wegen vielen aus der Dorfbibliothek entliehenen Rittergeschichten für die Burgruine interessierte. Dass diese nicht wegen der Rache der Königin Agnes nach der Ermordung ihres Vaters in Windisch (1309) zerstört worden ist, sondern eine ganz andere Geschichte hat, habe ich erst später über historische Arbeit erfahren. Aber ich vergesse nicht mehr, wie ich im Mai oder Juni 1961 zusammen mit einem Kollegen mit dem Velo über das Ruckfeld nach Tegerfelden an die Surb gefahren bin, um dort erstmals im Leben einer Nachtigall zu lauschen. Auch die Firsthalde, die Würenlingen, Endingen und Tegerfelden verbindet, war einmal ein Vogelparadies. Dort habe ich mit dem Würenlinger Briefträger Anton Meier selig das einzige Mal in meinem Leben einen Wiedehopf beobachtet. Ich hoffe, Sie damit nicht zu langweilen: Heimat heisst; aufmerksam zu bleiben für das, was auf dem eigenen Boden so passiert und dafür ein Auge zu haben.

Geschichten von Ämmerimählern, also Müllern, welche nicht nur in Tegerfelden geblieben sind, sondern in der Welt herumgekommen, erinnern noch daran, dass Tegerfelden an einer alten Römerstrasse liegt, also an der Verbindung von Vindonissa-Windisch nach Tenedo-Zurzach. Im Mittelalter war es auch der Weg der Handelsleute an die Zurzacher Messen und der Wallfahrer zur heiligen Verena, nicht nur auf den Achenberg. Aus diesem Grunde finde ich den Tegerfelder Hausnamen „Königinnenhof“ interessant. Er erinnert an die bedeutendste Sponsorin des Zurzacher Münsters, die in Königsfelden residierende, schon genannte Agnes von Ungarn. (Wurde noch weiter ausgeführt; wird ein wichtiges Motiv zu meinem Buch über die Mystik in der Schweiz.)

Unter den Tegerfelder Familiennamen hat mich neben den Mühlebach, Hauenstein, Zöbel und Deppeler ganz besonders der Name „Anner“ neugierig gemacht. Nicht nur, weil es wie andere Tegerfelder Namen ein typisch reformierter Name ist und die Reformierten und Katholischen hier sich lange in der gleichen „Simultan-Kirche, ehemalige mittelalterliche Kapelle, zusammenraufen mussten. Weil „Anner“ nämlich ein Beispiel für einen „Mutternamen“ ist, wie übrigens Gretler im Kanton Zürich und in der Innerschweiz Kathriner und andere. Solche Namen erinnern uns an unsere Heimat als Mutterland, wobei Anna als Grossmutter Jesu und übrigens Ana als keltische Gottheit ein ganz besonders matriarchaler Muttername ist. So wie die Aare als besonders weiblicher Fluss gilt, vom keltischen Namen her drückt das Wort aus, die gegen Sonnenaufgang, also von Westen nach Osten Fliessende.

Ackerbauer, Rebbauer, Müller und andere Handwerker. Das Arbeitsleben hat sich nicht nur in der Technik, worüber ich heute nicht spreche, sondern auch auf dem Gebiet des Erwerbs des täglichen Brotes und dem Verhältnis zu Essen und Trinken schon vor Generationen stark verändert. Zwischen Klingnau und Ehrendingen, also auch in Tegerfelden, wurden nach 1740 die ersten Kartoffeln angebaut, worüber ich mal bei einer Bundesfeier in Klingnau gesprochen habe. In den Hungersnöten ab 1770 bis noch ins Katastrophenjahr 1816/17 musste der Anbau zum Teil behördlich befohlen werden.

Lange galt das Sprichwort: „Was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht.“ Eine Tessiner Verwandte einer ehemaligen Bezirksschülerin von Endingen hat mir zum Thema Kartoffeln kürzlich eine interessante Anekdote erzählt. Eine Art Wander-Witz, der vom Tessin bis in den Aargau mal verbreitet war. Es geht um die anfängliche Zurückhaltung der Kartoffel gegenüber, wobei die frühen Sorten nun mal wirklich nicht nur ein Genuss waren. Was sagten die kartoffelkritischen Bauern zum Landvogt? (Ein solcher besuchte übrigens von Baden aus Tegerfelden regelmässig.): „Ja, wir essen gerne Kartoffeln. Darum verfüttern wir sie zuerst den Schweinen. Danach schlachten wir die Säue. Auf diesem Weg werden Herdäpfel (andernorts auch „Harparu“ genannt) wirklich ein Festessen.“ Womit ich mich auch noch gleich als Angehöriger einer alten Metzgerfamilie aus Würenlingen „geoutet“ habe.

Zum Abschluss: Was es bedeutet, dass jede Gemeinde ihr eigenes Rütli hat. Die Wiese, der Ort der Versammlung, oft unter einer Linde oder Eiche. In diesem Sinn war zum Beispiel das richtige Rütli zwar kein Treffen der Rebbauern und auch nicht der Müller, aber nach dem Ernährungshistoriker und Exmissionar Al Imfeld (1935 – 2017) Ort einer „Käserverschwörung“. In diesem Sinn gilt: der Tag der Heimat ist ein Tag der Rückbesinnung auf unsere Existenz: bei Essen und Trinken; in der Natur, in der Kultur, in der Politik, und nicht zuletzt in der Arbeit. Dies alles gelingt am besten, wenn „Freiheit noch gelitten“ wird, wie der Dichter Albrecht von Haller in seinem Gedicht über die Alpen es ausdrückte; ein Gesichtspunkt, der auch für die schweizerische Innenpolitik und unser Verhältnis zu Europa und der Welt zu bedenken bleibt.

„Nicht ausgeschlossen bleiben vom Grössten, aber dennoch gehalten bleiben im Kleinsten, das ist der Weg Gottes.“ Motto von Ignatius von Loyola aus Hölderlins Roman „Hyperion, oder der Eremit in Griechenland.“

 

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